Manche Kirchenlieder haben, nachdem ihr erstes Leben, das in den Gesangbüchern und im Gemeindegesang beendet ist, noch ein zweites, ein Leben in den Konzertsälen. Vieles spricht dafür, daß der Exodus aus den Gesangbüchern nicht an der Qualität, auch nicht an der Beliebtheit des Liedes gelegen haben kann, sondern vielmehr daran, daß wohlmeinende Kompilatoren dem Corpus musicus/poeticus zu Leibe rückten. Das Neue Geistliche Lied, anschließend kirchenamtlich verordnet, stirbt alsobald eine stillen Tod.
Die Methode ist seit der Aufklärung stets dieselbe. Unter dem Vorwand der besseren Singbarkeit werden Melodien "vereinfacht", die lebendigen, synkopenreichen barocken Rhytmen, vorwiegend im ¾-Takt, werden in braven Viervierteltrott umgewandelt, Melismen ausgerodet, an die Stelle der nach heutigem Geschmack mystisch und traurig klingenden "Kirchentonarten" tritt ein heiteres aber auch banales Dur. Vermeintlich unverständliche Texte werden in Theologendeutsch "übersetzt", die mystische Dimension allzumenschlich allzuirdisch verflacht, bis daß das resultierende Produkt den Reiz eines frischgebügelten Liebestöters versprüht.
Dem "Täublein weiße" ist es so ergangen. Zum ersten Mal findet sich das "Täublein" in Beuttners "Catholisch Gesangbuch" von 1602, dort hat es noch folgenden (der heutigen Schreibweise angepassten) Wortlaut:
- Es flog ein Täublein weiße vom Himmel herab / Im Engelischen Kleide / zu einer Jungfrau zart / es grüßet sie so hübsch und säuberlich / ihr Seel ward hochgezieret / gesegnet ward ihr Leib / Kyrie eleison
- Gegrüßet seist ein Königin / der Herr der ist mir dir / du wirst ein Kindlein gebähren / das sollst du glauben mir / sie antwort ihm dem Himmelischen Bot / Hab ich mein Keusch versprochen / dem Allmächtigen Gott / Kyrie eleison
- Hast du dein Keusch versprochen / dem Allmächtigen Gott / so wird er zu dir kommen / wohl durch das Göttlich Wort / er kommt zu dir wohl so gar ohn arge List / ein Magd wirst du bleiben / die immer und ewig ist / Kyrie eleison
- Gscheh mir nach deinen Worten / und nach dem Willen Gott / so geb ich meinen Willen / weil ich gebähren soll / Sie schloß wohl auf ihres Herzens Fensterlein / wohl zu der selben Stunde / der heilig Geist ging ein / Kyrie eleison
- Da wohntens beieinander / die Magd und Jesus Christ / bis auf den Weihnachts-Morgen / da er geboren ist / der wahre Gottes-Sohn / die Menschheit an ich nahm / des sagen wir armen Sünder / ihm ewig Lob und Dank / Kyrie eleison
- Da ward er uns geboren / der wahre Gottes Sohn / der uns zu Trost ist worden / den Sündern allesamt / Ach Gott warum tat er aber das / er her wiederum bringen / was Adam und Eva verbrach / Kyrie eleison
- Die Eva hat zerbrochen / und Adam das Gebot / Maria hat Gnad gefunden / hat uns Heil wiederbracht / wohl durch ihr Frucht des Leibs Herrn Jesum Christ / das Heil ist uns entsprungen / der Himmel-Aufschließer ist / Kyrie eleison
- Der Himmel ward aufgeschlossen / wohl durch den Schlüssel klar / Maria ist der Garten / da der Schlüssel gewachsen war / der Heilig Geist den Garten besäet hat /gar schön ist er gezieret / mit göttlicher Majestät / Kyrie eleison
- Also hat auch der Ruf ein Ende / wohl hie zu dieser Stund / so wolln wir Gott nur bitten / aus unsers Herzen Grund / daß er uns allen wohl genädig sein / er woll uns auch behüten / von der heissen Höllen Pein / Kyrie eleison
Die Melodie folgt - wie meistens - einem populären Volkslied. Woher das Lied stammt, ist unbekannt, Beuttner hat es vorgefunden und in Druck gegeben. Das Lied ist teilweise poetisch etwas ungelenk, aber das innige Bild vom "Täublein", gewissermaßen als jüngstes Kind der Trinität, hat offenbar die Herzen ergriffen.
David Gregor Corner nimmt wenige Jahre später in seinem tausendseitigen Opus magnum "Groß Catholisch Gesangbüch" nur geringe Änderungen vor
- ... , gegrüßet seist du, wunderschöne Magd / dein Seel ist hochgezieret, gesegnet ist dein Leib"
steigt also gewissermaßen direkt in den Dialog zwischen Gottesmutter und Engel ein. Statt besäet hat heißt es allerdings in Vers 8 "bessert" hat.
Den Gesangbuchredakteuren des 19. Jahrhunderts hat dieses innige und farbenfrohe Barocklied offenbar nicht gefallen. Sie dichten es brutalstmöglich um:
- Maria war alleine, versunken im Gebet / "Emmanuel erscheine, dich kündet der Prophet" / O Davids Sohn, wie gern möcht ich dich schaun / und dienen deiner Mutter / der Königin der Frau´n etc. pp.
Die Dözesangesangbücher beschuldigen Heinrich Bone, andere Joseph Mohr. Nun liegt mir ein Druck von Joseph Mohrs "Cantate" von 1899 vor in dem das Lied fehlt, so daß ich eindringlich auf Freispruch plädiere. Das Lied stirbt einen stillen Tod, in das Gotteslob 1975 wird es nicht mehr übernommen.
Nur das katholische Gesangbuch der Schweiz versucht, das Täublein wiederzubeleben:
- Es flog ein Täublein weiße vom Himmel herab / in Gabriels Geleite zu einer Jungfrau zart usw.
Der Text soll auf David Corner (1631) zurückgehen, die Melodie ebenso. Beides ein eklatanter Verstoß gegen das 8. Gebot, denn weder der Text noch die Melodie entspricht dem "Groß Catholisch Gesangbüch", der Text ist bis auf die erste Zeile völlig umgestaltet, die Melodie ist - vermutlich wegen der "Singbarkeit" - stark vereinfacht. Der wahre Autor ist vielmehr Huber Sidler, gemeinsam mit Markus Jenny Redakteur des mißratenen Gotteslobes 1975 und Mitglied der AöL, der "Arbeitsgemeinschaft ökumenisches Liedgut".
Ökumene, Ökumiste.
Überlebt hat das Lied, arrangiert durch u.a. Johannes Brahms, im Konzertsaal. Brahms greift auf den Urtext bei Beuttner zurück, abgesehen von Corners wunderlichem "besseren" Garten. Das Lied ist auf drei Strophen verkürzt, auf die erste, und die beiden letzten. So könnte man sie, gemeinsam mit der von Brahms nur leicht veränderten Melodie, in ein Gesangbuch übernehmen - wenn sich einer noch traut.
Johannes Brahms, "Es flog ein Täublein weiße".
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